06.10.2008
Rückblick auf die Revoluzzer-Schule
Die Zeiten der Revolution sind vorbei. 40 Jahre nach ihrer Gründung ist die Ernst-Reuter-Schule ruhiger geworden. Wenn Matthias Kraus zurückblickt, lautet sein Fazit: «Insgesamt ist es an der Schule friedlicher geworden.» Der 55-Jährige hat die bewegte Geschichte der Bildungsstätte hautnah erlebt. Bis 1972 war er Schüler, seit 1977 ist er selbst Lehrer für Physik, Informatik und Gesellschaftslehre.
Als Heimat für junge Familien entstand Anfang der 60er die Nordweststadt und mit ihr die Nordweststadtschule. Ein paar Jahre später forderte Bundeskanzler Willy Brandt (SPD), «mehr Demokratie zu wagen» – ein Motto, das die Lehrer der Nordweststadtschule quasi vorweggenommen hatten. Sie strebten eine integrative Gesamtschule an, also eine Schule, in der Kinder und Jugendliche mit Haupt, Real- und Gymnasialempfehlung gemeinsam unterrichtet werden. Zunächst nur in den musischen Fächern und Sport, von 1967 an auch in Mathe, Deutsch und Englisch.
Am 30. September 1968 erhielt die Nordweststadtschule ihren heutigen Namen Ernst-Reuter-Schule. Sie wurde ausdrücklich als Modellschule angesehen: Der damalige Oberbürgermeister Willi Brundert (SPD) betonte, sie solle «kritische Bürger unserer modernen Gesellschaft erziehen». Knapp ein Jahr später, am 1. September, beschloss das Lehrerkollegium, eine integrierte Sekundarstufe einzuführen. Die Klassen 7 bis 10 sollten nun in allen Fächern schulformübergreifend unterrichtet werden. Damit war der Weg zur ersten Integrierten Gesamtschule Hessens geebnet.
Im Jahr 1972 war die Zahl der Schüler dann auf mehr als 3000 angewachsen. Kraus erinnert sich: «Es war unübersichtlich und eng geworden – viele wurden aggressiv.» Die 150 Lehrer hätten sich kaum gekannt und konnten nicht gut zusammenarbeiten. «Wir Schüler streikten damals für eine bessere Schule.» Mit Erfolg. Im September wurde die Ernst-Reuter-Schule II gegründet und zog in einen Fertigbau in Nordweststadt. Noch im selben Jahr entschieden sich beide Schulen für eine kollegiale Schulleitung – ein demokratisch, alle vier Jahre gewähltes Leitungsteam ohne Schuldirektor. An der Ernst-Reuter-Schule I hielt das System aufgrund von Konflikten im Lehrerkollegium nicht lange. Die Schwesterschule allerdings behielt die kollegiale Schulleitung bis 2005. Mit gutem Ergebnis, wie Kraus findet. «Sicher gab es Spannungen, aber insgesamt war es ein Miteinander. In den 90er Jahren wurde es dann schwieriger, weil viele junge Lehrer dieses System nicht mehr unterstützten.» In den 70er und 80er Jahren entbrannten um die Reuter-Schulen teilweise heftige Diskussionen. Mehrere Politiker kritisierten den «hierarchiefreien Umgang» zwischen Schüler und Lehrern und die Einführung des Sexualkundeunterrichts. Das Fach Polytechnik und Projektwochen hielten Einzug. «Zu dieser Zeit hatten wir ein großes Problem mit gewaltbereiten Schülern. So wurde 1976 die Schulsozialarbeit und die Ausländerförderung eingeführt», berichtet Kraus.
Im Jahr 1984 machte sich der «Pillenknick» bemerkbar: Die Schülerzahlen sanken, und so wurde entschieden, die Ernst-Reuter-Schule I nach und nach zu einer gymnasialen Oberstufe zu reduzieren. Drei Jahre später zog die Reuter II zurück in den alten Gebäudekomplex am Hammarskjöldring.
Ein Meilenstein in der bewegten Geschichte der beiden Schulen war die Einführung des «Gemeinsamen Unterrichts» 1989. «Die Entscheidung, Schüler mit Behinderungen aufzunehmen, wurde mit nur einer Stimme Mehrheit in der Gesamtkonferenz beschlossen», so Kraus. «Zwar hatten wir schon vorher einige körperbehinderte Schüler, doch nun sollte es zum Konzept gehören, auch Schwerstbehinderte oder Kinder mit Down-Syndrom zu integrieren.» Die Klassen wurde in gemischte Gruppen und Regelklassen aufgeteilt. Es schlossen sich Partnerklassen, Regellehrer mit normaler Ausbildung und Sonderschullehrer bildeten Teams. «Die Integration der behinderten Schüler läuft bis heute in den meisten Klassen sehr gut», berichtet Kraus.
Wie sich die Schule entwickelt hat? Einige Experimente sind abgeschlossen, so Kraus. So gibt es an der Ernst-Reuter-Schule II seit 2005 wieder einen vom Schulamt eingesetzten Schulleiter. Es herrscht «das Prinzip der Überschaubarkeit», das heißt, Schüler werden nach Jahrgangsstufen getrennt in verschiedenen Gebäudeteilen unterrichtet. Und es ist einfacher geworden, Regeln durchzusetzen. «Wir haben beispielsweise die Vorschrift, dass Fahrräder auf dem Schulhof geschoben werden. Das hätte man bei uns früher nie durchsetzen können. Aber wir hatten ja auch eine andere Philosophie, haben uns gegen alles aufgelehnt. Die Schüler von heute sind entspannter.» jro
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