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12.10.2004

Edzard Reuter schwelgt in seiner alten Schule in Erinnerungen

Niederursel. Es war bereits das vierte Mal, dass der frühere Daimler-Chrysler-Chef Edzard Reuter die nach seinem Vater benannte Ernst Reuter Schule 1 besuchte.

In einer Arbeitsgemeinschaft hatten zehn Schüler zwei Vitrinen zum Leben des berühmten Namenspatrons ihrer Schule gestaltet.

Zum ersten Mal konnte Edzard Reuter auch das farbenfrohe Porträt seines Vaters betrachten, der der Kunst-Leistungskurs der Jahrgangsstufe 12 im vergangenen Jahr gemalt hatte. Für die Schüler am interessantesten war allerdings das anschließende Gespräch mit dem ehemaligen Top-Manager. Aktueller Hintergrund der Diskussion war die vor einigen Tagen beschlossene Aufnahme von Verhandlungen mit der Türkei über ihren Beitritt zur Europäischen Union (EU). Daher erzählte Reuter von seinen Erlebnissen aus jener Zeit, als die Familie vor den Nationalsozialisten in die Türkei floh.

Als scharfer Kritiker des Nationalsozialismus sei sein Vater Ernst Reuter bereits früh in ein Konzentrationslager gesperrt, bald darauf aber wieder freigelassen worden. Als bekannt wurde, dass er wieder inhaftiert werden sollte, floh die Familie in die Türkei. «Mein Vater war im KZ schwer misshandelt worden. Eine erneute Inhaftierung hätte er nicht überlebt.» Über einen Freund in Ankara bekam der als erster Bürgermeister des «freien» Westberlin bekannt gewordene Ernst Reuter eine Stelle im türkischen Wirtschaftsministerium. Bis zu seinem 18. Lebensjahr habe er in der Türkei gelebt, erzählt Edzard Reuter. «Meine ganze Jugend habe ich dort verbracht, das hat mich sehr geprägt.» Schon damals sei das Land tief gespalten gewesen, sowohl sozial als auch in den täglichen Umgangsformen. Kemal Atatürk habe das Land mit zahlreichen Reformen auf den Weg zu einem westlichen Staat gebracht. Damals sei Ankara noch eine anatolische Provinzstadt gewesen, nicht die westliche Großstadt von heute. «Eine Partnerschaft von Männern und Frauen gab es nicht. Der Ehemann ritt auf dem Esel, während die Ehefrau mit etwas Abstand hinterher lief.»

Bis heute seien die Unterschiede zwischen modernen Städten wie Ankara, Izmir oder Antalya und dem Leben auf dem Land groß. Der Grund seien die deutlich schlechteren Bildungsmöglichkeiten in ländlichen Regionen der Türkei. Die Hoffnung Atatürks, das Problem innerhalb einer Generation zu lösen, habe sich nicht erfüllt. Um für einen Beitritt zur Europäischen Union bereit zu sein, müsse sich in der Türkei noch sehr viel ändern.

Beim schwierigen Thema der Menschenrechte sehe er die Türkei auf einem guten Weg. «Die neue Regierung der Ak-Partei unter Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hat in kurzer Zeit Gesetze erlassen, an die niemand je geglaubt hatte.» Folter werde streng bestraft, Gefangene hätten Zugang zu Rechtsanwälten. Die Umsetzung werde aber wohl noch einige Zeit dauern. Auch eine Flut von Türken, die nach Deutschland wollten, befürchte er nicht. «Das hat man beim Beitritt Polens auch gesagt, aber nichts ist passiert.»

Eine Unterschriftenaktion gegen die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen halte er schlicht für populistisch: «So wahnsinnig kann keiner sein.» (hau)




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