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30.06.2010

Mit Vollgas in die Vergangenheit

Niederursel erinnert beim Dorffest an Eingemeindung vor 100 Jahren. Wie lebte es sich in Niederursel vor 100 Jahren? Einen kleinen Einblick gab es gestern beim Dorffest anlässlich der Eingemeindung des Stadtteils 1910.

Um einen «Lanz Bulldog» in Fahrt zu kriegen, braucht es viel Fingerspitzengefühl und ein wenig Kraft. Das alles bringt Theo Waltz mit, schließlich besitzt er das Schmuckstück schon seit vielen Jahren. Erst die Heizlampe anzünden, Luft hineinpumpen und dann der Clou: Das abnehmbare Lenkrad in den Anlasser stecken und einmal kräftig ziehen. Der schwarze Traktor hustet kurz dunkle Rauchwolken, dann erwacht er schnaufend zum Leben. Theo Waltz schwingt sich auf den Bock und dreht tuckernd eine Runde im Hof.

Die Zuschauer sind begeistert. «Ein Gefühl wie vor 100 Jahren», flüstert ein Mann seiner Frau zu. Das Gefährt ist zwar etwas jünger – Baujahr 1942 – aber zum richtigen Ambiente für das Dorffest zur Eingemeindung von Niederursel 1910 trägt er allemal bei.

Wer eine Zeitreise machen wollte, war gestern in Niederursel genau richtig. Der Vereinsring und der Bürgerverein Niederursel hatten sich mächtig ins Zeug gelegt, um das Motto «Niederursel 1910 und heute» greifbar zu machen. Und wer die Augen offenhielt, konnte tatsächlich ein paar Stunden die Gegenwart vergessen. Oder sich zumindest ein bisschen wie Anfang des Jahrhunderts fühlen.

Pflichttermin für die Festgemeinde war schon morgens der Gottesdienst in der Gustav-Adolf-Kirche. Leider nicht mit der Liturgie wie vor 100 Jahren, wie es im Programm stand – «da gab es ein Missverständnis», bedauerte Pfarrer Michael Stichling. Eine Messe im Stil des vergangenen Jahrhunderts wäre aber auch nicht jedermanns Geschmack gewesen: «Damals standen Bußpredigten im Vordergrund.» Lieber legte Stichling einen Pfad mit Meilensteinen aus der Gemeindegeschichte im Kirchenraum aus und nahm in seiner Predigt Bezug darauf, wie sich Kirche in 100 Jahren verändert hat. «Die Ökumene hat eine höhere Bedeutung bekommen und die Rolle des Pfarrers hat sich geändert: Früher war er in erster Linie Seelsorger, heute sind viele organisatorische Aufgaben hinzugekommen.»

Nach dem einstündigen Gottesdienst brauchte man Entspannung. Die wartete schon vor der Kirche: Der Polizeichor «Die Preußen» standen Spalier – stilecht mit Pickelhaube, Uniform und Degen. «Was wär’ mein Frankfurt ohne Sachsenhausen», fragten sie sich und versicherten einmal mehr, dass sich die Polizei darum kümmern wird, wie nun die Beule in Frau Rauschers Ei gekommen ist. «Die Preußen» sind eine Gruppe innerhalb des Polizeichors und feiern dieses Jahr 25. Geburtstag, berichtet Chorleiter Dominik Heinz. Der Menge gefiel’s. Nur eine Dame war wohl besorgt, ob die acht Sänger nicht ziemlich schwitzen würden in ihren Uniformen. «Aber», schloss sie letztlich, «wahrscheinlich tragen sie Eiswürfel unter den Pickelhauben.»

Was Anfang des Jahrhunderts sonst so los war in Niederursel, gab es an vielen verschiedenen Ständen zu sehen: Peter Rosenberg etwa präsentierte stolz seine Dreschlocomotive – «mit c, wohlgemerkt» –, die 1928 gebaut wurde und Dreschmaschinen antrieb. «Das ist pure Kraft», sagte er und klingt fast liebevoll. «Man kann sofort nachvollziehen, was die Maschine macht. Wenn ich heute bei meinem Auto die Motorhaube aufmache, sehe ich größtenteils Plastikverkleidung.» Zudem führten Heimathistoriker durch den Stadtteil, machten aufmerksam auf Denkmäler und andere Zeitzeugen und wem selbst die Traktorausstellung zu modern war, konnte mit dem Reitclub Niederursel das Fest vom Kutschbock aus erleben.

Eine Zeitreise macht aber auch hungrig: Historisch korrekte Verpflegung gab es beim «Lahmen Esel», der ein ganzes Spanferkel auf den Spieß steckte. Frisch gestärkt ging es dann gleich nebenan in die Bilderausstellung des Heimatvereins, der nach dem Prinzip arbeitete: Viel Bilder, wenig Text. Kam aber gut an: Der Saal war voll.

Ein Ereignis holte die Besucher am Nachmittag aber ganz schnell wieder in die Gegenwart: Das Public Viewing des Spiels Deutschland gegen England beim Sportverein Niederursel. Dafür ließ sogar Theo Waltz seinen Traktor ausnahmsweise mal links liegen. jro jro




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