25.02.2005
Gemeinsam Kosten gespart
Experten nehmen Unterrichts-Modell der Ernst-Reuter-SchuleII unter die Lupe
Von Julie Bayer
Niederursel. In der Verfassung des Landes Hessen vom 1. Dezember 1946 wurde neben der Unterrichtsgeldfreiheit auch die Lernmittelfreiheit vorgeschrieben. Damit griff Hessen einer ein halbes Jahr später erlassenen Direktive des Alliierten Kontrollrates vor, die unter der Überschrift «Grundprinzipien für die Demokratisierung des Bildungswesens in Deutschland» die Schaffung gleicher Bildungsmöglichkeiten für alle sowie die Lehr- und Lernmittelfreiheit an allen Schulen forderte.
Das Fortbestehen dieser damals in der Landesverfassung verankerten Grundsätze ist Prof. Dieter Katzenbach zufolge gefährdet. In seinem Vortrag «Gemeinsamer Unterricht (GU) von Kindern mit und ohne Behinderung – Die bildungspolitische Antwort auf den Pisa-Schock» an der Ernst-Reuter-Schule II vergleicht der Erziehungswissenschaftler, der am Institut für Sonderpädagogik der Goethe-Universität lehrt, die Situation Deutschlands kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges mit der aktuellen Lage.
Sein Kommentar zu der Aussage von Prof. Joachim-Felix Leonhardt, Staatssekretär im Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst, wonach sich die Deutschen die Lernmittelfreiheit und freien Hochschulzugang in Zukunft «wohl nicht mehr leisten» könnten, sei folgender: «Richtig müsste es heißen: ‚Wir wollen uns diese Errungenschaften nicht mehr leisten.‘»
Zur Bekräftigung seiner Worte legt der Erziehungswissenschaftler Prof. Dieter Katzenbach dem Publikum in der Aula der Integrierten Gesamtschule am Hammarskjöldring zwei Fotografien vor, die gegensätzlicher kaum sein könnten. Die erste Aufnahme zeigt das von Bomben zerstörte Zentrum Frankfurts nach Kriegsende, die zweite die imposanten Fassaden der Banken und Hochhäuser, die das Straßenbild heute prägen.
Hinsichtlich des schlechten Abschneidens deutscher Schüler bei der Pisa-Studie 2000 und 2003, das bundesweit für Aufregung gesorgt hatte, warnt der Wissenschaftler vor voreiligen Schlussfolgerungen. Die Forderung nach einer besseren Früh- und Grundschulausbildung etwa treffe den Kern des Problems nur bedingt.
«Pisa untersucht die Schulleistungen von 15-Jährigen. In der Iglu-Studie, die das Leistungsbild am Ende der vierten Klasse erfasst, schnitten deutsche Schüler aber vergleichsweise gut ab.» Nicht die Grundschulen, deren Zöglinge im internationalen Vergleich relativ gute Leistungen erbrachten, rückten damit ins Zentrum der Kritik.
Die entscheidende Frage sei vielmehr, zu welchem späteren Zeitpunkt die Weichen für den allgemeinen Leistungsabfall gestellt würden.
Weder das Einschulungsalter noch die Zahl der Unterrichtsstunden taugten als Begründung, zumal es im Hinblick auf jedes dieser Kriterien Länder gebe, die unter gleichen Voraussetzungen besser abschnitten. «In einem Punkt aber steht Deutschland allein: Wir sind das einzige Land, das seine Schüler nach vier Jahren auf unterschiedliche Schulzweige verteilt. Die Schullaufbahnempfehlung hat sich als höchst problematisch erwiesen.»
Die Schweiz und Liechtenstein, deren Schulsystem sich bis vor Kurzem ebenfalls nach der vierten Klasse differenzierte, und die in der Pisa-Studie 2000 ähnlich schlechte Ergebnisse verbuchten wie Deutschland, hätten den GU inzwischen auf sechs Jahre verlängert.
Neben zu geringen Investitionen in das Bildungswesen – am Bruttoinlandsprodukt gemessen gebe Deutschland prozentual genauso viel für Schulen und Hochschulen aus wie etwa Brasilien oder die Türkei – sei diese frühe Selektion ausschlaggebend für das Besorgnis erregende Ergebnis der Pisa-Studie.
Integrative Schulen, an denen Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam unterrichtet werden, führten nicht zu einer Beeinträchtigung der leistungsstarken Schüler sondern zu einer Förderung der schwächeren. «Am Beispiel Finnland, das zugleich hervorragende Ergebnisse und die geringste Streubreite zwischen den schlechtesten und den besten Resultaten verzeichnete, lässt sich nachweisen, dass Leistungsunterschiede ausgeglichen werden können, ohne dass das Unterrichtsniveau dadurch sinkt.»
Das übereinstimmende Ergebnis aller Studien zu diesem Thema sei, dass der Lernerfolg von Kindern ohne Förderbedarf im GU weder geringer noch größer sei als in Regelklassen. Förderbedürftige Schüler lernten in integrativen Klassen deutlich besser als in Sonderschulen.
In Hessen, wo 2003/2004 bei 26 326 Kindern, rund vier Prozent aller Schüler, ein sonderpädagogischer Förderbedarf festgestellt wurde, steigt die Zahl der an Sonderschulen unterrichteten Kinder Katzenbach zufolge seit Jahren. «Oft wird GU mit Hinweis auf die damit verbundenen Kosten abgelehnt. Tatsache ist, dass GU in Stadtbezirken zwar zu geringen Mehrkosten, in Flächenkreisen aber zu Kosteneinsparungen führt. Systematische Integration wäre weniger kostenaufwendig als die Aufrechterhaltung unseres Parallelschulangebotes.»
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