Wir sind die Lesekönige aus Niederursel

Abends um 8.30 Uhr, wenn Ricarda Jass eigentlich das Licht ausknipsen und schlafen sollte, bleibt es im Zimmer der Neunjährigen bisweilen hell.

Wenn die Nachtlektüre gar zu spannend ist, liest Ricarda heimlich weiter. Der gelegentliche Ungehorsam zahlte sich jetzt aus: Beim Vorlesewettbewerb der Heinrich-Kromer-Schule wurde Ricarda zur Lesekönigin der dritten Klassen gekürt. Vor einer zweiköpfigen Jury und ihren versammelten Mitschülern hatte sie einige Seiten aus dem von ihr selbst ausgewählten Buch «Die wilden Hühner auf Klassenfahrt» vorgetragen.

Worauf sie beim Lesen zu achten hatten, war den Schülern in den vergangenen fünf Wochen immer wieder erklärt worden. Höchste Zeit also, zu zeigen, was man gelernt habe, findet Ricarda. Auch ihren Mitschülern hat der Wettbewerb Spaß gemacht. «Die Schule will, dass wir viel lesen, damit wir später schwierige Bücher verstehen können», vermutet Sandra Kadletz (9) und trifft damit den Nagel auf dem Kopf.

Die beiden Lehrerinnen Hildegard Merten und Gudrun Wagner gründeten 1997 einen Leseclub an der Grundschule, um dem steigenden Fernsehkonsum der Kinder entgegenzuwirken und ihre Lesemotivation zu fördern. Für alle Klassenstufen steht seither wöchentlich eine Büchereistunde auf dem Lehrplan. Dank des ehrenamtlichen Engagements von 41 Müttern und einem Vater hat der Leseclub täglich von 8.40 Uhr bis 13.30 geöffnet. Der Bestand der Bücherei kann sich sehen lassen: Über 2000 gut erhaltene Werke, ausgewählt nach den Interessen der Schüler, lagern in den Regalen.

«Wir achten darauf, alte oder beschädigte Exemplare auszusortieren», erklärt Lehrerin Martina Keilmann, die den Club gemeinsam mit drei Kolleginnen betreut. «Wenn die Kinder schöne Bücher in die Hand nehmen, ist der Anreiz größer, sie pfleglich zu behandeln.» Finanziert werden die Bücher vom Förderverein der Schule und aus den Einnahmen des alljährlich von den Schülern organisierten Literatur-Flohmarktes. Hildegard Merten beschreitet indes auch ungewöhnlichere Wege, um ein paar preiswerte Bücher für den Leseclub zu ergattern: «Auf die Frankfurter Buchmesse nehme ich immer einen Koffer mit, und dann wird verhandelt.»

Um ihre Schüler über den Unterricht hinaus zum Lesen anzuregen, begann Gudrun Wagner vor fünf Jahren in einem klasseninternen Wettbewerb den besten Leser ihrer Schulklasse zu ermitteln. Weil die Kinder sich von dem Konzept begeistert zeigten, wurde der Wettstreit auf alle dritten und vierten Klassen ausgeweitet. Seither wird jedes Jahr ein Vorentscheid im Klassenverband getroffen. Die jeweils fünf besten Leser treten anschließend vor der Jury an, lesen einen eingeübten und einen unbekannten Text und werden dann im Atrium der Schule geehrt und mit Büchern und Lesezeichen beschenkt.

Anna Lustig (9) hat lange für den Vorlesewettbewerb geübt. Als zweite Siegerin der vierten Klassen kann sie mit dem Ergebnis zufrieden sein. Umso mehr, als sie im vergangenen Jahr selbst den ersten Platz belegte. Ob sie auch an ihrer neuen Schule zur Lesekönigin geadelt wird, ist ungewiss: «Ich hoffe, dass es dort einen Wettbewerb für alle Klassen geben wird.» (jul)

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