14.07.2004
Luftpost mahnt zum integrativen Unterricht
Hunderte von Eltern und Schülern protestieren gegen geplante Kürzungen von Sonderpädagogen-Stunden.
"Jetzt schlägt´s dreizehn": Punkt 13 Uhr, nach Schulschluss, hagelte es an sieben Schulen Aktionen. Wegen der geplanten Personalkürzungen von 74 auf 59 Stellen im integrativen Unterricht gingen 500 Protestkarten an Ballons in die Luft. Ziel: das hessische Kultusministerium in Wiesbaden.
VON GITTA DÜPERTHAL
"Der gemeinsame Unterricht (GU) mit behinderten und nicht behinderten Kindern muss bleiben", steht auf den Postkarten, die an Luftballons festgemacht sind. Oder: "Integrativ geht nicht schief". Daneben sind Kinderbilder zu sehen: Drei Kinder beim Spiel, eines davon im Rollstuhl. Sitora hat ihren Spruch extra feuerrot eingerahmt, um zu zeigen, wie wichtig diese Botschaft ihr ist.
Der drohende Einschnitt ist hart: Bisher wurde der GU an elf Frankfurter Grundschulen und vier weiterführenden Schulen durchgehend mit einer Lehrerin und einer Sonderpädagogin besetzt. Nach den Sommerferien dürfen jedoch die Sonderschullehrer nur noch 20 Stunden unterrichten. Ab dem Schuljahr 05/06 sollen die zwei Integrationsklassen auf eine pro Jahrgang zurückgefahren werden. "Für uns Eltern ist das ein Rückfall in vorsintflutliche Zeiten", schimpft Vivianas Mutter Rosa Attardo. In einer von mehr als 100 Lehrern unterschriebenen Erklärung heißt es: "Bereits jetzt müssen in Frankfurt mehr als 100 Anträge auf einen Platz in einer integrativen Schule jährlich abgelehnt werden."
Um ihren Unmut kundzutun, standen am Dienstag nach Schulschluss 360 Kinder der Römerstadtschule und 45 Kinder des integrativen Kindergartens "Cantate Domino" im Schulhof mit Luftballons in der Hand. Sie alle warteten, die Karten am Ende der Ballonschnur auf die Reise zu schicken. Alle sind gleich adressiert: Die Finder der Ballons mögen diese bitte an Frau Karin Wolff ins Kultusministerium schicken. "Wir sind anders als ihr", sangen die Kinder. "Na und! Das macht das Leben bunt." Auch viele Eltern ließen Ballons steigen, als Beate Fritzel verkündete: "Jetzt schlägt es dreizehn." Auch der Frankfurter Landtagsabgeordneten Andrea Ypsilanti reicht es. Per Erklärung solidarisierte sie sich: "Hier zeigt sich wieder einmal, dass diese Landesregierung das Wort Fördern aus ihrem pädagogischem Wortschatz gestrichen hat."
Zeitgleich gab es an mehreren Schulen lautstarken Protest. An der Münzenberger-Schule startete eine symbolische Seilaktion. Motto: "Wir wollen zusammenbleiben." An der Integrativen Schule wurde gepuzzelt. Die Merian-Schüler produzierten massenhaft Seifenblasen, um zu mahnen: "Der GU ist zu kostbar, um ihn wie Seifenblasen zerplatzen zu lassen." An der Theobald-Ziegler-Schule demonstrierten 360 Kinder mit Wasserbomben. Ihre Botschaft: "Uns platzt der Kragen." Auch an der Heinrich-Seliger-Schule und an der Ernst-Reuter-Schule II gab es Aktionen.
Der zehnjährige Max, der wegen Cerebralparese im Rollstuhl sitzt, wirkte allerdings fast glücklich. Vielleicht weil er die Solidarität von Eltern und Schülern der Römerstadtschule spürte. "Vor 20 Jahren war es noch die große Frage: Kann man Kinder mit Mehrfachbehinderungen unterrichten? Jetzt sollen sie faktisch wieder ausgegrenzt werden. Das ist ein Skandal, wenn das politisch so gewollt ist", empört sich Maxs Mutter Beate Fritzel. Als "unbegründet" wies Ralf Hörnig, Sprecher des Kultusministeriums, die Proteste zurück: "Kein Kind im GU wird seinen Schulplatz verlieren." Die geplante Umverteilung von Lehrerstellen werde laut Hörnig nicht zu Lasten der sonderpädagogischen Förderung gehen.
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